Ein Porträt der Sportpsychologin Frauke Wilhelm

„Jede Spielerin muss das Gefühl haben, gesehen zu werden“

In wenigen Wochen beginnt die Fußball-Europameisterschaft der Frauen in der Schweiz. Für die Spielerinnen der deutschen Nationalmannschaft steht am 12. Juni eine wichtige Entscheidung an, denn dann nominiert Bundestrainer Christian Wück seinen finalen EM-Kader. Wie können die Spielerinnen mit der Anspannung in dieser nervenaufreibenden Phase umgehen? Welche Aspekte sind aus Trainersicht wichtig? Und ist „11 Freundinnen müsst ihr sein“ bei der Kaderplanung ein guter Ansatz? Ein Interview mit der Sportpsychologin Frauke Wilhelm.

Frau Wilhelm, am 12. Juni gibt Bundestrainer Christian Wück den endgültigen Kader für die Fußball-EM der Frauen in der Schweiz bekannt. Für viele Spielerinnen ist das also gerade eine Zeit der Unsicherheit. Was passiert da in so einem Gefüge?

Das ist jetzt eine heiße Zeit für alle. Je nachdem wie der Trainer kommuniziert, gibt es vielleicht einige Spielerinnen, die sich schon sicher sind, dass sie dabei sein werden. Aber selbst die schauen teilweise nervös drauf, wer von den anderen mit ihnen in den Kader kommt. Für viele ist es sicher eine Phase, in der sie sich ein wenig ohnmächtig oder hilflos fühlen, weil es anders als im Verein nicht mehr täglich die Gelegenheit gibt, sich zu zeigen, sondern das, was bisher passiert ist, muss gereicht haben, um den Trainer zu überzeugen. Also klar: Da ist jede Menge Aufregung und Anspannung im Spiel.

Welche Tipps würden Sie einer Spielerin für diese Phase geben?

Grundsätzlich glaube ich, dass es für alle Leistungssportler wichtig ist, dass man lernt, sich trainerunabhängig selbst zu beurteilen. Damit ich nicht alleine davon abhängig bin, was der Trainer von mir denkt und wie er mich bewertet, sondern auch lerne zu schauen, was sind die Dinge, die mir wichtig sind, wann bin ich mit meiner Leistung zufrieden. Die Spielerin hat keinen Einfluss darauf, nach welchen Kriterien der Trainerstab am Ende entscheidet, aber sie kann ihr eigenes Verhalten beeinflussen. Es geht darum, möglichst mit dem Gefühl da rauszugehen: Ich habe alles dafür getan, mich bestmöglich zu platzieren. Und dann heißt es abwarten.

Bei Wücks Vorgängerin Martina Voss-Tecklenburg gab es viel Kritik daran, dass sie vor der WM 2023 erst sehr spät festgelegt hat, wer zum Kader gehört, nämlich erst kurz vor dem Abflug nach Australien. Nach dem überraschenden Aus der deutschen Mannschaft in der Vorrunde haben Spielerinnen dann bemängelt, dass das dazu geführt habe, dass viele im Trainingslager noch so sehr mit dem Kampf um den eigenen Platz beschäftigt waren, dass man gar nicht als Team zusammengefunden habe. Gibt es den perfekten Zeitpunkt für die Kadernominierung?

Wahrscheinlich schon, nur leider kennt man ihn vorher nicht. Der richtige Zeitpunkt ist sicher von vielen Faktoren abhängig. Und natürlich sind solche Entscheidungen nie möglich, ohne Leute zu enttäuschen. Es bleiben frustrierte Spielerinnen zu Hause. Es gibt aber auch immer Enttäuschungen bei denen, die mitfahren. Etwa, weil die beste Freundin nicht dabei ist oder weil ich nicht die Rolle bekomme, auf die ich gehofft habe. Und dann kann es ganz gut sein, nicht zu viel Zeit zu haben, über diese Dinge nachzugrübeln, bevor es losgeht. Es kann aber auch unglücklich sein, den Stresspegel sehr lange aufrecht zu erhalten, weil sich dann die Nominierung möglicherweise schon wie der eigentliche Erfolg anfühlt. Dabei ist sie ja erst der Startpunkt und ich sollte noch unter Spannung stehen, wenn es wirklich losgeht.

Wie sorge ich für eine gesunde Konkurrenz im Kader, um die Spannung hoch zu halten ohne dass mir die Stimmung um die Ohren fliegt?

Für eine gesunde Konkurrenz ist wichtig, dass ich die Spielerinnen nicht gegeneinander ausspiele. Ich muss immer wieder vermitteln, dass ich alle schätze, alle wichtig sind und alle gebraucht werden, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Jede Spielerin muss das Gefühl haben, gesehen zu werden und Teil der Mannschaft zu sein.

Welche Aspekte sind aus Ihrer Sicht neben der Leistung und der taktischen Ausrichtung des Teams noch wichtig für die Kaderbesetzung? Gilt da der Spruch „11 Freundinnen müsst ihr sein“ oder müssen bestimmte Charakterrollen besetzt sein?

Ich muss das Gefühl haben, dass wir gemeinsam gut durch das Turnier kommen – am besten bis zum Ende. Der Kader sollte also über ein paar Wochen hinweg miteinander funktionieren. Das kann schon bedeuten, dass man versucht, sich nicht die größten Konfliktherde ins Team zu holen. Es kann auch hilfreich sein, Mannschaftsteile zu haben, die sich schon gut kennen. Außerdem sollte ich als Trainerteam darauf achten, dass ich Spielerinnen habe, die meine Werte teilen und mit mir an der Atmosphäre arbeiten, die ich kreieren will. Dafür kann es auch hilfreich sein, ein oder zwei Leute im Kader zu haben, die eine gewisse Lockerheit mit reinbringen. 

Kann es unter dem Gesichtspunkt auch sinnvoll sein, jemanden mitzunehmen, dem nach einer langen Verletzungspause die Spielpraxis fehlt? Ich spiele auf Lena Oberdorf an, bei der Christian Wück bisher offen lässt, ob er sie für die EM nominiert.*

Ohne das jetzt auf Oberdorf persönlich zu beziehen, würde ich sagen: Ja, das kann sinnvoll sein, wenn jemand von der sozialen Komponente her enorm wichtig ist für das Team. Weil derjenige vielleicht in der Lage ist, die anderen zu motivieren, wenn es mal nicht läuft oder für Spaß zu sorgen, wenn der Stresspegel zu hoch ist. Das kann eine wichtige Rolle sein. Andererseits muss man überlegen: Die Kaderplätze sind eng begrenzt. Wenn ich da jemanden mitnehme, der nicht topfit ist und dann verletzen sich zwei, drei andere, kann das richtig blöd enden. Es kann also eine gute Entscheidung sein, das zu machen, oder eine richtig schlechte. Egal, wie es ausgeht, hinterher werden alle sagen: Hab’ ich’s doch gewusst!

Was würden Sie einer Spielerin raten, die mit der Enttäuschung umgehen muss, am Ende aussortiert zu werden und nicht bei dem Turnier dabei zu sein, auf das sie vielleicht über Monate hingearbeitet hat?

Da gibt es leider kein Patentrezept. Das Wichtigste ist, dass man nicht so tut als wäre nichts. Man sollte sich zugestehen, dass es weh tut. Es kann sein, dass Lebensträume platzen, weil man vielleicht weiß, wenn es diese EM oder WM nicht wird, wird es überhaupt keine mehr. Das ist schon wirklich hart. Man sollte sich also die Zeit nehmen, das zu betrauern und sich dafür vielleicht auch Unterstützung suchen. Wie man am Ende damit umgeht, ist unterschiedlich. Die Strategie der meisten ist vermutlich, sich abzuschotten und sich die Spiele nicht anzuschauen. Aber es gibt auch Menschen, die das anders lösen.

Sjoeke Nüsken im Trikot der Nationalmannschaft
Sjoeke Nüsken war 2022 bei der EM-Vorbereitung dabei, wurde dann aber aus dem endgültigen Kader für England gestrichen. Eine harte Erfahrung, an der sie gewachsen sei, wie sie später berichtete. Foto: Leonie Kühn

Gibt es Fehler, die Trainer*innen häufig machen, wenn es darum geht, Kaderentscheidungen zu kommunizieren?

Viele Trainerinnen und Trainer führen diese Gespräche nicht gerne. Es fällt ihnen schwer, ihre Spielerinnen zu enttäuschen. Es ist deshalb menschlich, dass solche Gespräche manchmal auf die lange Bank geschoben, den Co-Trainern zugeschustert, schriftlich abgearbeitet oder im schlimmsten Fall gar nicht geführt werden. Das sind dann zusätzliche Kränkungen für die Betroffenen. Dabei hat das meistens gar nichts damit zu tun, dass die Trainer diese Leute nicht wertschätzen, sondern es liegt an einer emotionalen Überforderung. Man muss sich mal vorstellen, wie das im Vereinsfußball ist: Jede Woche muss ich als Trainer mehr als der Hälfte der Mannschaft sagen, dass sie nicht spielt. Das macht natürlich keinen Spaß.

Es gab in den vergangenen Jahren immer wieder Fälle, in denen bekannte Trainerinnen oder Trainer öffentlich über Stress und Erschöpfung gesprochen haben. Arbeiten Sie eigentlich nur mit Sportler*innen oder auch mit Trainer*innen? **

Ich arbeite mittlerweile tatsächlich fast nur noch mit Trainern. Es macht natürlich auch Sinn, sich als Führungskraft, wie in anderen Berufen auch, einen Coach an die Seite zu holen. Trainer oder Trainerin zu sein, ist ein schwieriger Job. Man muss harte Entscheidungen treffen, ein großes Team führen und viel kommunizieren. Und, was Christian Wück auch gerade erlebt: Je nachdem, um welches Team es geht, steht man dabei sehr in der Öffentlichkeit. Eine U17-Nationalmannschaft interessiert medial deutlich weniger als die Frauen-Nationalmannschaft. Da stellt man vielleicht fest, dass Dinge, die früher gar nicht von Interesse waren, plötzlich interessant sind.

Ein Thema, das bei Christian Wück zuletzt öffentlich stark diskutiert wurde, war die Kommunikation mit den Spielerinnen. Nicole Anyomi sagte kürzlich in einem Interview, nachdem sie eine Zeit lang von Wück nicht nominiert worden war, es habe zuletzt kein direkter Austausch stattgefunden. Felicitas Rauch schrieb in einem Instagram-Post, dass sie nicht nominiert werde, sei das eine, dass man sie nichtmal informiere, das andere. Kann das ein sinnvoller Weg sein, mit dem Frust umzugehen?

Wenn Spielerinnen oder Spieler zu öffentlicher Kommunikation greifen, muss man schon überlegen: War das jetzt eine unüberlegte Handlung, saß da also jemand zu Hause und war so übermannt vom Frust, dass er das schnell gepostet hat oder war das ein strategischer Akt? Denn natürlich kann so ein öffentlicher Angriff einen Trainer schwächen. Ich habe keine Ahnung, woran es in diesem Fall lag. Aber ganz grundsätzlich würde ich immer empfehlen, die Dinge persönlich zu lösen und nicht über Bande zu spielen.

Wie haben Sie Wücks Umgang mit der öffentlichen Kritik empfunden?

Ich finde, dass er das gut aufgegriffen hat, indem er gesagt hat, er nimmt das an und stellt fest, dass es offenbar unterschiedliche Erwartungen an die Kommunikation gab, die daraus erwachsen sind, dass bestimmte Dinge vor seiner Zeit anders kommuniziert wurden, als er das tut. Da kann sehr gut was dran sein, weil das in Trainerteams eben sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Wenn die Erwartungshaltung, was Häufigkeit und Intensität der Kommunikation angeht, bei den Spielerinnen eine völlig andere war als beim Trainerteam, dann kann das zu Missverständnissen führen. 

Wenn Sie einem Nationaltrainer oder einer Nationaltrainerin für die heiße Phase vor so einem großen Turnier einen einzigen Ratschlag geben dürften, welcher wäre das?

Ich glaube, ich würde sagen: „Versuch Ruhe zu bewahren, bleib deinen Werten treu, verfall nicht in den Glauben alles alleine machen zu müssen, nutz deinen Trainerstab und vor allem: Genieß es!“ Klar, so ein Turnier bringt große Belastungen mit sich. Aber es ist doch am Ende auch das, wofür man das alles macht. Bei einer EM oder WM dabei zu sein, das ist doch das Allergeilste.

Titelbild: Jan Konstaedt

*Anmerkung: Kurz nach der Veröffentlichung des Interviews gab Bundestrainer Christian Wück bekannt, dass er Lena Oberdorf nicht für die EM in der Schweiz nominieren wird.

**Ein sehr offenes Interview, in dem er seine mentale Erschöpfung thematisierte, gab der damals frisch nach Los Angeles gewechselte ehemalige Trainer der Frauenmannschaft des FC Bayern München, Alexander Straus „Miasanrot.de“. Hier könnt Ihr es nachlesen.

Frauke Wilhelm

Frauke Wilhelm ist Diplom-Psychologin. Seit 2011 berät sie Leistungssportler aus unterschiedlichen Sportarten unter anderem am Olympiastützpunkt Niedersachsen. Als Sportpsychologin mit dem Schwerpunkt Fußball war sie außerdem für das Nachwuchsleistungszentrum von Hannover 96, die dortige Profimannschaft und das Profiteam von St. Pauli zuständig. Darüber hinaus war Frauke Wilhelm in der  sportpsychologischen Betreuung und Begleitung der männlichen U18-, U19- und U20-Nationalmannschaften des DFB tätig.

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