Eigentlich war Jessica Wissmann erst vor sechs Wochen als Co-Trainerin zur SGS Essen gekommen – da stand sie plötzlich als Chefin an der Seitenlinie. Nach nur einem Punkt aus fünf Spielen und einem Torverhältnis von 1:17 zog der Bundesligist die Reißleine: Der Teamchef Robert Augustin sowie der Trainer und Sportliche Leiter Thomas Gerstner mussten gehen. Seither betreut Wissmann die Mannschaft interimsweise. Ein Gespräch über späte Anrufe, schnelle Entscheidungen – und die Suche nach der richtigen Balance.
Sind Sie eigentlich ein spontaner Mensch, Frau Wissmann?
Im Job und im privaten Alltag habe ich schon gerne einen strukturierten Tagesablauf, weil ich sonst gar nicht alles unter einen Hut kriege. In meiner Freizeit, also etwa im Urlaub, liebe ich Spontaneität. Da werden beim Backpacken die ersten beiden Unterkünfte gebucht und dann wird geschaut, wo die Reise hingeht und in den Tag hineingelebt.
Vor Kurzem mussten Sie beruflich eine recht spontane Entscheidung treffen. Ende August sind Sie als Co-Trainerin aus dem Nachwuchsleistungszentrum in Kaiserslautern zur SGS nach Essen gewechselt. Ich stelle es mir schwierig vor, zum Ende der Saisonvorbereitung als Co-Trainerin bei einem Team einzusteigen, das man noch gar nicht kennt. Was hat Sie davon überzeugt, das Angebot trotzdem anzunehmen?
Ich habe mich beim 1. FC Kaiserslautern wohl gefühlt und hatte auch schon für die neue Saison unterschrieben. Als der Anruf aus Essen kam, war klar, dass das eine Chance ist, für die ich mich aber aus meiner Wohlfühlzone heraus bewegen muss. Bis dahin war ich immer in meiner gewohnten Umgebung geblieben, nah an der Heimat und in einem Umfeld, von dem ich viel Wertschätzung erfahren habe. Bei den Gesprächen habe ich aber schnell gemerkt, dass die SGS ein total familiärer Verein ist, bei dem man über die einzelnen Bereiche hinweg zusammenarbeitet und sich gegenseitig unterstützt. Das war der Hauptgrund, warum ich mich dafür entschieden habe. Ich hatte das Gefühl, das ist der richtige Verein, um das Risiko einzugehen, mich aus meinem bekannten Terrain heraus zu bewegen.
Jetzt liegt Essen ja nicht gerade um die Ecke von Kaiserslautern. Wie ist der Kontakt zwischen Ihnen und der SGS überhaupt zustande gekommen?
Der damalige Sportliche Leiter der SGS hat mich kontaktiert. Thomas Gerstner kommt ursprünglich aus der gleichen Gegend wie ich. Er hat sich zufällig mit einer ehemaligen Spielerin von mir unterhalten. Die Mannschaft hat sich nach dem Abschied von Britta Hainke, die ihr Engagement als Co-Trainerin bei Essen beendet hatte, wieder eine Frau auf der Position gewünscht und so kamen die Beiden im Gespräch auf mich. Dann hat Thomas Gerstner sich bei mir gemeldet und es hat für beide Seiten gleich gut gepasst.
Anschließend ging alles Schlag auf Schlag. Sie waren gerade mal sechs Wochen bei der SGS, als sich der Verein am Mittwoch vergangener Woche von Teamchef Robert Augustin und dem Sportlichen Leiter Thomas Gerstner getrennt hat. Am Freitagabend standen Sie dann beim Auswärtsspiel in Leipzig schon für die SGS als Interimstrainerin an der Seitenlinie. Was ist zwischen diesen beiden Ereignissen passiert?
Wir haben uns im Grunde mit der Mannschaft eingeschlossen und versucht, sie da abzuholen, wo sie steht. Wir mussten viele Gespräche führen: Einzelgespräche, Gruppengespräche, Gespräche mit der ganzen Mannschaft. Gleichzeitig haben wir im Trainerstab versucht in diesen eineinhalb Tagen einen klaren Plan dafür herauszuarbeiten, wie wir das Spiel angehen. Medial war natürlich auch einiges los. Aber unser Hauptaugenmerk lag auf dem sportlichen Teil der Herausforderung.
Bleiben wir kurz beim Mittwoch: Es gab also eine Krisensitzung, im Verein wurde man sich einig, dass man sich von den beiden sportlich Hauptverantwortlichen trennen will. Und dann? Hat jemand zum Handy gegriffen und gefragt: Jessica, machst Du’s?
Ich habe an dem Mittwoch spät abends einen Anruf bekommen und am nächsten Morgen hat Geschäftsführer Florian Zeutschler der Mannschaft mitgeteilt, dass ich interimsmäßig als Trainerin übernehme.
Mit wem haben Sie sich nach diesem Anruf beraten? Sie kannten ja das Team noch nicht lange und sollten jetzt plötzlich die gesamte sportliche Verantwortung übernehmen. Mit wem bespricht man sich da?
Da war gar keine Zeit, sich zu beraten. 23 Uhr oder so, unter der Woche – da war sowieso niemand mehr wach, mit dem ich mich hätte besprechen können. Und mir war auch sofort klar, dass ich die Mannschaft supporten will. Da gab es keine große Bedenkzeit – dafür war die Dringlichkeit viel zu hoch. Deshalb haben wir gesagt: Wir starten da jetzt zusammen rein und ich tue gemeinsam mit dem Staff alles, was wir für die Mannschaft tun können.
Wie haben Ihre Familie und Ihre Freunde auf die plötzliche Entwicklung reagiert?
Mein engstes Umfeld konnte ich zum Glück selbst informieren, der Rest hat es aus der Presse erfahren. Mein Handy hat dann nicht mehr aufgehört zu summen, aber ich hatte in den eineinhalb Tagen bis zum Spiel gegen Leipzig natürlich keine Zeit, darauf zu reagieren. Da gab es viele Anrufe und Nachrichten aus meiner Heimat.
Wie hat sich der plötzliche Wechsel vom Co-Trainerinnen-Dasein zur Hauptverantwortlichen an der Seitenlinie für Sie angefühlt?
Ich bin niemand, der die Dinge zerdenkt. Wenn es etwas zu tun gibt, dann lege ich los. So war das auch in diesem Fall. Aber natürlich ist es eine intensive Erfahrung. Generell bringe ich als Trainerin viel Emotionalität mit. Das ist ein wichtiger Teil von mir. Deshalb war es auch im Stadion an der Seitenlinie superintensiv. Als Co-Trainerin berät man und arbeitet zu, aber am Ende trifft jemand anders die Entscheidungen und verantwortet das Ergebnis. Und jetzt in dieser führenden Rolle hast Du plötzlich den Hut auf und stehst für die Entscheidungen gerade – auch dann, wenn Dinge nicht so laufen, wie geplant. Darüber muss man sich klar sein. Das gilt besonders in der schwierigen Situation, in der sich der Verein gerade befindet.
Eine Entscheidung, die Sie für das Spiel in Leipzig getroffen haben, war der Wechsel im Tor. Was hat Sie dazu bewogen, auf Luisa Palmen statt Kim Sindermann zu setzen?
Tatsächlich war schon lange bevor ich das Zepter in der Hand hatte mit den Torhüterinnen besprochen, dass jede ihre Blöcke bekommt, also Zeiträume von zwei, drei oder vier Wochen, in denen sie im Tor steht. Natürlich kann es immer mal Einflussfaktoren wie Krankheiten, Verletzungen oder Formtiefs geben und alles geschieht in enger Absprache mit unserem Torwarttrainer. Aber grundsätzlich war die Idee auf der Position mit Blöcken zu arbeiten. Zuletzt hat immer Kim im Tor gestanden. Deshalb war es nur fair zu sagen: Jetzt bekommt Lui ihre Spiele. Beide sind auf Augenhöhe, beide trainieren super. Von außen wirkte es wahrscheinlich so als hätte ich da eine harte Entscheidung getroffen. Aber so war es nicht. Luisa Palmen war einfach an der Reihe.
Gegen Leipzig stand mit Teresa Buonarroti eine Spielerin aus der U21 im Essener Kader. War das ein Ergebnis der Verletzungsmisere Ihres Teams oder eine bewusste Entscheidung für Buonarroti?
Beides. Natürlich haben wir Verletzungssorgen und auch langfristige Ausfälle, aber abgesehen davon ist Teresa eine von mehreren tollen jungen Spielerinnen aus der U19 und der U21, die wir an die Bundesliga heranführen wollen. Und Heranführen ist für mich eine langfristige Angelegenheit. Man kann nicht sagen: Jetzt brennt die Hütte, jetzt nehmen wir sie mit und sie spielt. Heranführen heißt für mich: Die Spielerin nimmt an der Trainingswoche teil, sie lernt die Mannschaft kennen, sie fährt mal mit zu Auswärtsspielen und gewöhnt sich ein. Wenn jemand so talentiert ist, dann müssen wir derjenigen diese Möglichkeit geben. Das ist aus konzeptionellen Gründen wichtig, aber auch, weil diese Mädels sich das verdient haben. Denn die geben Gas.
Macht es für Sie im Umgang einen Unterschied, ob sie ein solches junges Talent vor sich haben oder erfahrene Spielerinnen wie Jaci Meißner oder Julia Debitzki, die mit 34 Jahren genauso alt ist wie Sie selbst?
Grundsätzlich gelten bei mir für alle dieselben Regeln. Da spielt es keine Rolle, ob jemand 200 Bundesligaspiele hinter sich hat oder zwei. Der Rahmen ist erstmal für alle gleich. Aber natürlich muss man mit einer jungen Spielerin manchmal behutsamer umgehen und die ein oder andere Sache von ihr fern halten. Eine erfahrene Spielerin kann man da vielleicht mehr in die Pflicht nehmen und auch andere Dinge mit ihr besprechen.

Wie erleben Sie das Team gerade und was denken Sie, was es braucht, um es zu stabilisieren und wieder Erfolg zu haben?
Ich glaube, dass diese Mannschaft Lebendigkeit braucht und ganz klare Strukturen. Jede Spielerin muss in jeder Phase des Spiels und zu jedem Zeitpunkt genau wissen, was sie auf dem Platz zu tun hat. Und dennoch sollen sie eigene Entscheidungen treffen. Sie müssen das Gefühl haben: Auch jetzt in dieser schwierigen Situation dürfen wir Fehler machen. Wir müssen hinterher darüber reden und schauen, wie wir es nächstes Mal besser lösen, aber Fehler sind erlaubt.
Und wie findet man die richtige Balance zwischen Lebendigkeit und Struktur?
Das ist das Schwierige. Für mich gibt es einige Dinge auf dem Platz, die nicht verhandelbar sind. Die betreffen zum Beispiel die Struktur, in der wir spielen wollen. Da geht es vor allem um das Spiel gegen den Ball. Da müssen Positionen besetzt sein. Wenn das funktioniert, bekommen wir Stabilität. Stabilität sorgt für Selbstsicherheit. Und wenn die da ist, dann kann man Fußball spielen. Für das Spiel mit dem Ball geben wir dem Team Lösungsvorschläge an die Hand, aber am Ende soll jede Spielerin selbst entscheiden, was sie in welchem Moment für richtig hält.
Was glauben Sie: Wie lange braucht es, um diese Selbstsicherheit wieder aufzubauen? Beim 0:8 gegen Wolfsburg stand ja vor Kurzem noch ein völlig verunsichertes Essener Team auf dem Platz.
Gegen Leipzig hat die Mannschaft aber zuletzt schon anders agiert. Da ist was passiert. Die Spielerinnen arbeiten im Training unheimlich gut. Die Leistung, die sie da zeigen, müssen wir in die Pflichtspiele übertragen. Das erfordert viel Energie von außen, Emotionalität und eine klare Struktur. Das Team braucht einen Plan.
Was erwarten Sie vom nächsten Gegner, der TSG Hoffenheim?
Hoffenheim ist ein gut eingespieltes Team, das mit Ball sehr stark ist. Die werden vermutlich wieder ihr 4-2-2-2 spielen. Die Hoffenheimerinnen wissen genau, was sie da zu tun haben, arbeiten mit vielen Positionswechseln. Das wird eine Herausforderung, bei der wir vor allem in den Umschaltmomenten wach sein müssen.
Ist denn schon klar, dass Sie am Freitag wieder als verantwortliche Trainerin an der Seitenlinie stehen?
Ja, das wird so sein.
Da Sie noch nicht über die notwendige Fußballlehrer-Lizenz verfügen, werden Sie wohl bald in die Position der Co-Trainerin zurückkehren. Glauben Sie, dass Ihnen das nach dieser Erfahrung schwer fallen wird?
Nein, gar nicht. Es geht um die Mannschaft und nicht um irgendwelche Befindlichkeiten. Für mich ist es kein Problem, mich da wieder unterzuordnen.
Jessica Wissmann
Jessica Wissmann ist seit Ende August 2025 Co-Trainerin beim Bundesligateam der SGS Essen. Sie ist Inhaberin der B+ Lizenz. Während ihrer aktiven Karriere spielte Wissmann im zentralen Mittelfeld unter anderem in der Südwestauswahl und war Spielertrainerin beim TuS Wörrstadt. Für den Job bei der SGS gab sie ihre Stelle als Co-Trainerin der A-Junioren im Nachwuchsleistungszentrum ihres „Herzensvereins“ 1. FC Kaiserslautern auf. Wissmann stammt aus dem rheinland-pfälzischen Alzey.
Titelfoto: SGS Essen/Michael Gehrmann
