Mehr als zwei Jahrzehnte an der Seitenlinie der SGS Essen – Kirsten „Schlotti“ Schlosser ist eine Vereinslegende. Die gebürtige Essenerin hat nicht nur als Spielerin sämtliche Klassen für die SGS durchlaufen, sondern auch als Co-Trainerin der Bundesligamannschaft Generationen von Fußballerinnen geprägt. Nach dieser Saison beendet die 57-Jährige, die hauptberuflich ein Schwimmbad in Duisburg leitet, ihre Tätigkeit als Co-Trainerin bei der SGS. Im Interview blickt sie auf die Entwicklung des Fußballs der Frauen zurück, spricht über den Spagat zwischen Schwimmbadleitung und Profifußball und verrät ihre Gefühle zum überraschenden Wechsel von Cheftrainer Markus Högner zum Revierrivalen BVB.
Frau Schlosser, Sie sind seit 21 Jahren Co-Trainerin der SGS Essen in der Bundesliga und leiten hauptberuflich ein Schwimmbad in Duisburg. Wie um Himmels Willen geht das zusammen?
Indem man viele Opfer bringt. Ich fahre morgens ins Schwimmbad, setze mich gegen 16 Uhr oder 16.15 Uhr ins Auto, düse zum Training und bin dann meistens so gegen 19.30 Uhr wieder zu Hause. Jedes zweite Wochenende sind wir mit der Mannschaft in ganz Deutschland unterwegs. Meine Vorgesetzten haben das zum Glück immer unterstützt. Aber einfach ist es trotzdem nicht. Ich leite ja das Schwimmbad. Das ist mein Hauptberuf. Wenn bei uns im Bad das Wasser wegläuft, dann kann ich nicht sagen, tut mir leid, ich muss jetzt zum Training. Dann hat das Vorrang. Einen Vollzeit-Job plus Frauen-Bundesliga, das kann man heute eigentlich gar nicht mehr unter einen Hut bringen.
Es ist also schwieriger geworden?
Ja. Wir haben inzwischen am Freitag, Samstag, Sonntag oder Montag Spiele. Wenn wir samstags in Leipzig oder München spielen, muss ich den Freitag freimachen. Ich kann dann zum Glück Freizeitausgleich oder Urlaub nehmen, aber man kann sich ja ausrechnen, was da für Trainingslager, Auswärtsspiele et cetera im Jahr so zusammenkommt. Da bleibt wenig Zeit, sich mal um Freunde oder andere Dinge zu kümmern. Ohne meine Mutter, die mich im Haushalt unterstützt, wäre das so gar nicht möglich gewesen. Ich habe ja eigentlich immer nur für den Fußball gelebt.
Wie hat das überhaupt angefangen, mit Ihnen und dem Fußball? Sie sind 1967 geboren. Damals war das vermutlich nicht das erste Hobby, das Eltern für ihre Tochter eingefallen ist. Wie sind Sie zum Fußball gekommen?
Ich habe schon immer viel Bewegung gebraucht. Deshalb habe ich mit meinem großen Bruder und seinen Freunden viel auf der Straße oder auf dem Bolzplatz gekickt. Irgendwann hat mein Bruder, der zwei Jahre älter war als ich, angefangen im Verein zu spielen – und ich bin einfach mitgegangen.
Wie fand Ihr Bruder das, die kleine Schwester im Schlepptau zu haben?
Für den war das kein Problem. Er hat das akzeptiert, weil er gesehen hat, dass ich kicken kann.
Und wie war das mit Ihren Eltern?
Meine Eltern waren eigentlich immer gegen Fußball. Zumindest waren sie dagegen, dass ich spiele. Damals hieß es ja noch, das ist nichts für Mädchen.
„Ich hatte schon immer meinen eigenen Kopf.“
Aber sie haben Ihnen das Fußballspielen nicht verboten.
Nein, nein, nein. Das hätten sie auch nie geschafft. Ich hatte schon immer meinen eigenen Kopf. Später haben meine Eltern auch akzeptiert, dass ich Fußball spiele und mich unterstützt. Als mein Vater noch lebte, waren sie oft dabei und heute kümmert sich meine Mutter bei der SGS um den Fanartikel-Verkauf.
Wie alt waren Sie als Sie angefangen haben im Verein zu trainieren?
Genau kann ich das gar nicht mehr sagen. Das dürfte in der D-Jugend gewesen sein. Ich erinnere mich nur noch, dass der Trainer traurig war als ich an die Altersgrenze kam und nicht mehr bei den Jungs spielen durfte. Weil es damals kaum Mädchenmannschaften gab, bin ich dann erstmal zur Leichtathletik gegangen.
Und wie sind Sie dann doch noch bei der SGS gelandet?
Mit 17 habe ich wieder mit dem Fußball angefangen. Erstmal bei Juspo Frintrop. Aber die Mädels dort haben just for fun gespielt und ich wollte eigentlich immer mehr.
Was war dieses mehr? Was haben Sie sich darunter vorgestellt?
Ich war einfach unzufrieden mit unserem Spiel. Wir hatten bei Frintrop damals ein Torverhältnis das lag vielleicht bei 10 zu 80. Ich habe erst vorne gespielt und gemerkt, da kriege ich keinen Ball. Dann habe ich hinten gespielt, aber das war auch nicht besser. Die Gemeinschaft war super, die Mädels waren nett, aber es fehlte der Leistungsgedanke. Irgendwann habe ich deswegen den Spaß verloren. Eine Nachbarin von mir hat damals schon in Schönebeck gespielt und meinte: Komm doch zu uns! Im Dezember 1986 habe ich mir dann ein Herz gefasst und bin zur Ardelhütte gefahren.

Sie sind also einfach in Schönebeck aufgekreuzt und haben gesagt „Hallo, hier bin ich, ich möchte gerne mitspielen“?
Genau. Im Januar 1987 habe ich die Spielberechtigung bekommen. Ich habe in der Kreisliga angefangen, bin aber sofort hochgezogen worden in die Landesliga. Dann habe ich alle Klassen durchgespielt. Damals gab es noch keine zweite Bundesliga. Wir sind in der Regionalliga angekommen, haben die Aufstiegsrunde gewonnen und standen plötzlich in der Bundesliga. Nach mehreren Bandscheibenvorfällen hatte ich aber solche Rückenprobleme, dass ich bei der Aufstiegsrunde gar nicht mehr als Spielerin dabei war, sondern schon als Co-Trainerin an der Seitenlinie stand. Der Verein hat mir dann später noch einen Kurzeinsatz in der Bundesliga geschenkt. Das würde heute gar nicht mehr gehen.
War es schwer zu akzeptieren, dass Sie der Mannschaft auf dem Platz nicht mehr helfen konnten?
Das tat auf jeden Fall weh. Weil der Kopf noch wollte, aber der Körper gesagt hat, geht nicht mehr. Ich wäre aber in der Bundesliga auch sonst sicher bald an meine Grenzen gekommen.
Was für eine Spielerin waren Sie?
Keine sehr angenehme, würde ich behaupten. Ich war Vorstopperin und habe sehr körperbetont gespielt, aber nie unfair. Ich war ehrlich gesagt kein Technikwunder, eher ein kleines Kampftierchen.
Was waren in den 21 Jahren, die Sie in der Bundesliga dabei sind, die größten Veränderungen im Fußball der Frauen?
Der Sport ist schneller geworden und attraktiver. Es gibt heute viele Mädchen, die schon in jungen Jahren technisch viel besser ausgebildet sind als wir es damals waren. Und die Akzeptanz für den Frauenfußball ist gewachsen. Wenn wir in den ersten Jahren gegen Bayern gespielt haben, in Aschheim, dann waren da vielleicht 150 Zuschauer.
Es gibt aber auch Entwicklungen, die mir nicht so gut gefallen. Wir hatten in Deutschland mit der Nationalmannschaft lange sehr, sehr viel Erfolg und der blieb dann irgendwann aus. Andere Länder haben in der Zeit nicht geschlafen, die haben ihre Hausaufgaben gemacht. Und ich habe das Gefühl, in den letzten Jahren wird in Deutschland mit aller Macht versucht, das aufzuholen, was man jahrelang versäumt hat.
„Sagen wir mal so: Die Luft wird dünner.“
Und wo liegt da aus Ihrer Sicht das Problem?
Die Vereine kommen teilweise gar nicht hinterher. Es haben eben nicht alle das Glück wie Bayern München oder Leipzig, dass Geld keine Rolle spielt. Wir können uns in Essen unseren Kader nun mal nicht zusammenkaufen. Wollen wir auch gar nicht. Wir wollen junge Talente fördern und an die Bundesliga heranführen und das ist uns bisher auch immer gelungen. Aber an Potsdam sieht man jetzt, wie schnell es gehen kann, wenn das nicht klappt und das Geld ausbleibt. Da kann es dann auch ganz schnell nach unten gehen.
Sehen Sie diese Gefahr für die SGS Essen auch? Viele Männer-Lizenzvereine haben ja inzwischen den Fußball der Frauen für sich entdeckt und drängen nach oben.
Sagen wir mal so: Die Luft wird dünner. Wenn Schalke und Dortmund irgendwann oben ankommen oder jetzt schon Nürnberg, Union Berlin oder der HSV – die machen ja nun alle Ernst. Und die haben durch ihre Männer-Lizenzmannschaften natürlich andere Rahmenbedingungen als wir in Essen. Aber wir haben uns über die Jahre einen guten Ruf erarbeitet und werden alles dafür tun, weiter zu zeigen, dass man es mit starker Nachwuchsarbeit auch mit weniger finanziellen Mitteln schaffen kann, in der Bundesliga zu bestehen.
Wie schauen Sie denn auf die Ruhrgebietskonkurrenz aus Dortmund und Gelsenkirchen?
In Dortmund bauen sie ein Trainingsgelände extra für die Frauen und haben jetzt schon einen großen Staff. Falls der BVB in die Regionalliga aufsteigt, sind die ja schon alle Profis. Ich finde es super, dass die gesagt haben, wir kaufen uns keine Lizenz, sondern fangen ganz unten an und erarbeiten uns das. Aber die haben es natürlich leichter als wir in Essen. Wenn alle Bundesligisten und Zweitligisten nur das Geld ausgeben dürften, das sie mit ihren Frauenteams verdienen, dann möchte ich mal sehen, wie viele sich da oben halten würden. Bei der SGS geben wir nur das aus, was wir einnehmen.
Können Sie die Entscheidung von Essens Cheftrainer Markus Högner verstehen, die SGS nach dieser Saison zu verlassen und zum BVB zu wechseln?
Ich kenne den Markus ja schon ewig. Als er damals das Angebot hatte als Co-Trainer zur Nationalmannschaft zu gehen, hat er gesagt: Mensch Schlotti, was soll ich machen? Da habe ich geantwortet: Markus, die Chance musst du nutzen, die wirst Du nie wieder kriegen. Und jetzt hat er sich halt für den Job in Dortmund entschieden. Das ist ihm ja auch nicht leicht gefallen, weil sein Herz natürlich an Essen hängt. Und ich bin ihm da auch nicht böse.

Haben Sie in den 21 Jahren als Co-Trainerin mal darüber nachgedacht, selbst Cheftrainerin zu werden?
Bei mir war aus gesundheitlichen Gründen nach der B-Lizenz Schluss. Als Cheftrainerin braucht man aber die Fußballlehrer-Lizenz. Schon aus diesem Grund war das kein Thema. Ich hatte aber auch nie das Bedürfnis Cheftrainerin zu werden, ich war immer gerne Co. Ich weiß, wo meine Stärken liegen und die kann ich an der Stelle gut einbringen.
Welche Stärken sind das?
Koordinationstraining ist immer meins gewesen. Die Mädels flotter machen und beweglicher. Ich habe auch versucht, mit der Zeit zu gehen und Reize zu setzen, damit sich die Spielerinnen weiterentwickeln. Von stundenlangen taktischen Einheiten habe ich nie viel gehalten, weil irgendwann die Kreativität verloren geht, wenn man immer vorgesagt bekommt, wohin man zu laufen hat. Letztens hatte ich ein Klemmbrett dabei, da sagt eine Spielerin zu mir „Mensch Schlotti, hast du dein iPad mit?“. „Ja“, sag ich. „Mein iPad für Arme.“ Ich kann ja trotzdem taktische Dinge vermitteln. Andere nutzen dafür einen Laptop, ich mache es eben anders. Und ich achte auf einen guten Umgang miteinander. Ich bin so ein bisschen die Mutter der Kompanie und habe immer ein offenes Ohr.
Wie war das als Torhüterin Sophia Winkler sich diese Saison so schwer verletzt hat? Was haben Sie zu ihr gesagt?
Das ist natürlich sehr, sehr schwer, in dem Moment die richtigen Worte zu finden. Das tut einem ja auch weh, weil man weiß, dass für die Spielerin eine Welt zusammenbricht. Da muss man ihr auch erstmal Zeit geben, das zu verarbeiten. Ich habe Sophia dann angerufen, versucht sie zu trösten und ihr gesagt, dass sie sich jederzeit bei mir melden kann. Ich habe ja in der ganzen Zeit in Essen viele Verletzungen miterlebt. Den Schien- und Wadenbeinbruch von Stina Johannes zum Beispiel. Das werde ich nie vergessen, den Schrei habe ich heute noch in den Ohren. Stina hat sich auf den Platz zurück gekämpft und das wird Sophia Winkler auch, davon bin ich überzeugt. Die ist eine super Torhüterin und ein toller Mensch. Die schafft das.
Hatten Sie in all den Jahren als Co-Trainerin mal den Gedanken: Es reicht, ich schmeiß es jetzt hin?
Ja. In den vergangenen beiden Jahren gab es Momente, in denen ich mit mir gehadert habe, wo ich mich gefragt habe, ob es das noch wert ist. Freunde und Familie mussten ja oft zurückstecken. Aber die Mädels geben einem eben auch viel zurück. Und wenn man diesen Sport liebt, dann ist es unheimlich schwer, den Absprung zu schaffen. Außerdem haben wir seit einiger Zeit mit Robert Augustin ja einen hauptberuflichen Co-Trainer bei dazubekommen, so dass ich ein bisschen kürzer treten konnte.
„Was hätten wir heute für eine Mannschaft zusammen, wenn die alle in Essen geblieben wären!“
In welches Stadion fahren Sie am liebsten zum Auswärtsspiel?
Ich mache das gar nicht so sehr vom Stadion abhängig, sondern eher vom Trainerteam, das mich erwartet oder von ehemaligen Spielerinnen, die ich dort treffe. Deshalb bin ich immer gerne nach München gefahren, um Linda Dallmann in den Arm zu nehmen oder Lea Schüller. In Wolfsburg ist es auch ein gutes Miteinander, wenn ich da so an Kulle denke, den Mannschaftsbetreuer vom VfL. Oder in Freiburg mit Birgit Bauer-Schick. Bei solchen Spielen hat man nach dem Abpfiff nochmal zusammengesessen, gequatscht und gemeinsam was getrunken.
Gibt es ein Spiel mit der SGS, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Ja, das DFB-Pokalfinale 2020 gegen den VfL Wolfsburg war schon Wahnsinn. Lea Schüller bringt uns in der ersten Minute in Führung. Kurz vor Schluss trifft Dominique Janssen für Wolfsburg zum 3:2 und dann gleicht Irini Ioannidou in der Nachspielzeit für uns aus. Am Ende haben wir zwar im Elfmeterschießen verloren, aber es war trotzdem ein tolles Erlebnis. (Highlights des Spiels gibt es hier auf Youtube zu sehen: Link)
Wenn man sich anschaut, wer in diesem Finale für die SGS Essen auf dem Platz stand, klingt das verrückt: Stina Johannes, Marina Hegering, Elisa Senß, Lena Oberdorf, Nicole Anyomi, Lea Schüller…
Ja klar. Was hätten wir heute für eine Mannschaft zusammen, wenn die alle in Essen geblieben wären! Dazu noch Sara Doorsoun und Linda Dallmann! Und Jana Feldkamp, die nächste Saison aus Hoffenheim zurückkehrt, war damals auch dabei. Dass sie wiederkommt, bestätigt natürlich auch die Arbeit, die in Essen geleistet wird.

Sie haben auf Instagram verkündet, dass für Sie am Ende der Saison als Co- Trainerin bei der SGS Schluss ist. Aus Ihren Worten klang für mich viel Wehmut heraus. Was werden Sie am meisten vermissen?
Puuh, eigentlich alles. Ich arbeite gerne mit jungen Menschen und wenn ich den ganzen Tag im Schwimmbad und im Büro war, dann will ich anschließend raus und auf dem Platz stehen. Deswegen bin ich natürlich ein bisschen wehmütig.
Und worauf freuen Sie sich? Was wollen Sie anfangen mit der Zeit, die Sie gewinnen?
Also theoretisch könnte ich dann die ganzen Termine wahrnehmen, die ich sonst immer verpasst habe. Ich könnte auf Hochzeiten und andere Familienfeiern gehen und Freunde treffen. Ich könnte mich öfter aufs Fahrrad setzen und etwas für meine Gesundheit tun. All sowas. Aber ich bin vom Kopf her noch gar nicht so weit. Ich habe letztes Jahr noch meine B-Lizenz verlängert. Ich muss das erstmal sacken lassen. Wenn der letzte Spieltag vorbei ist, fahre ich in Urlaub – und dann schaue ich mal, was ich mache.
Das ist Kirsten „Schlotti“ Schlosser
Kirsten Schlosser ist 1967 in Essen geboren. Anfang 1987 wechselte sie als Spielerin von Juspo Frintrop nach Essen-Schönebeck. Bereits seit 1994 trainierte Schlosser nebenbei Teams bei der SGS Essen und in der Kreisauswahl. Im Fußballkreis Essen war sie als Referentin für den Frauenfußball aktiv und führte ihre Teams als U-19 Kreisauswahl-Trainerin in den Jahren 2002 und 2003 ins Endspiel, das ihr Team 2002 gewann. Den Spitznamen „Schlotti“ erhielt sie, weil es zu ihrer Zeit als Spielerin eine Torhüterin gab, die mit Vornamen auch Kirsten hieß. Eine Teamkollegin kam dann vom Nachnamen Schlosser auf Schlotti und das hielt sich hartnäckig. „Ich glaube, die Einzige, die mich nicht Schlotti nennt, ist meine Mutter“, sagt Kirsten Schlosser selbst.