Jessica Stommel, Head of Frauenfußball bei Sportfive Germany

„Mehr Mut, mehr Respekt, mehr Sichtbarkeit“ – das fordert Jessica Stommel für den Fußball der Frauen

In weniger als zwei Wochen startet die Fußball-Europameisterschaft der Frauen in der Schweiz – ein Highlight auch für Jessica Stommel, die bei der Sportmarketingagentur Sportfive als Head of Frauenfußball tätig ist. Im Interview spricht Stommel über die Chancen und Herausforderungen des Fußballs der Frauen in Deutschland, verrät, warum sie die Aufstockung der Bundesliga kritisch sieht, was die Deutschen von den Engländerinnen lernen können – und was Letzteres mit den „Rosenheim Cops“ zu tun hat.

In Kürze startet die Fußball-Europameisterschaft der Frauen in der Schweiz. Welche Rolle spielt so ein Großevent für die Entwicklung des Fußballs der Frauen?

Eine enorm wichtige, weil es große mediale Aufmerksamkeit mit sich bringt. Ich glaube, wir stehen hier in Deutschland gerade an einem Scheideweg, was den Fußball der Frauen angeht. Deshalb kommt die EM zu einem sehr spannenden Zeitpunkt. Man merkt schon jetzt – auch durch die letzten beiden sehr erfolgreichen Spiele der deutschen Mannschaft – dass ein gewisses Kribbeln in der Luft liegt. Wenn dann noch der sportliche Erfolg dazukommt, könnte das eine neue Euphorie entfachen. Wir haben ja nach der EM 2022, bei der Deutschland im Finale stand, gesehen, was das auslösen kann. Wenn man das dann auch noch übersetzt bekommt in die Liga, so wie es in England bei der WSL der Fall war, kann das noch mal einen Push geben für die gesamte Entwicklung des Frauenfußballs. 

Schauen wir doch mal auf diese Heim-EM der Engländerinnen 2022. Wie haben die es damals geschafft, die Euphorie mit in die Liga zu nehmen? Und was kann man sich davon für Deutschland abgucken?

England hat es damals zum Beispiel mit der medialen Berichterstattung sehr gut gemacht. Die BBC hat alle Spiele der Europameisterschaft kostenfrei im Hauptprogramm übertragen. Das hat für eine sehr starke Sichtbarkeit gesorgt. Dass England dann bei der Heim-EM auch noch den Sieg holt, ist natürlich eine Geschichte, die man vorab nicht planen kann, die aber einen nicht unwichtigen Beitrag zur Euphorie geleistet hat, die entstanden ist. Und die WSL hat es dann einfach sehr gut hinbekommen, diesen Push zu nutzen, um die Transformation der Liga voranzutreiben. Dazu kam, dass sie die passenden Stars hatten, die als Vorbilder für junge Mädchen die Message rübergebracht haben: Das hier, das könnt ihr auch schaffen, wenn ihr an eure Träume glaubt. Der Fußball der Frauen ist, was das angeht, ja viel nahbarer und authentischer als der der Männer. Es ist leicht, sich mit diesen Spielerinnen zu identifizieren und der WSL ist es gelungen, deren Heldinnen-Geschichten glaubhaft zu erzählen. Die Engländerinnen hatten 2022 natürlich den Vorteil, das Turnier im eigenen Land zu haben. Das ist bei uns jetzt leider nicht der Fall. Aber die Schweiz ist ja nicht weit weg.

Ist das, was in Deutschland in Sachen Fußball der Frauen medial passiert, mit der Lage in England vergleichbar?

Nein, leider noch nicht. Wir haben bei Sportfive eine relativ frische Studie, „The Rise of Women’s Football: A Movement, not a Moment“, in der wir auch auf die medialen Entwicklungen in den Kernmärkten wie England oder Deutschland eingehen. Ich finde, da hinken wir in Deutschland grundsätzlich noch ein bisschen hinterher im Vergleich mit der englischen Liga WSL oder auch der NWSL in den USA. Ein Beispiel: Das Halbfinale der HSV-Frauen im DFB-Pokal war ausverkauft – 57.000 Zuschauer, ein absoluter Rekord im Vereinsfußball der Frauen hier in Deutschland. Das ZDF hatte die Übertragungsrechte, hat sich aber dafür entschieden, das Spiel nur im Livestream zu übertragen und nicht im Free TV. Dort liefen stattdessen die „Rosenheim Cops“.

Was auch ein großes Thema ist, ist die Produktion. Wenn man sich mal ein Bundesligaspiel der Frauen anschaut, dann ist das Kamerabild da einfach noch nicht sehr professionell. Ich glaube, das muss besser werden und man sollte da auch innovativer sein und neue Formate entwickeln, um den Frauenfußball für das Publikum attraktiver zu machen.

Im Fußball der Frauen in Deutschland kann man derzeit beobachten, dass Vereine mit großen Namen aus dem Männerfußball mit Wucht nach oben drängen. Wie schätzen Sie deren Rolle bei der Professionalisierung des Frauenfußballs ein?

Noch sind ja nicht alle großen Männervereine in der ersten Liga angekommen. Das wird sich aber nach und nach ändern, weil Vereine wie der FC Schalke oder Borussia Dortmund das Thema Frauenfußball inzwischen stärker in den Fokus nehmen. Bis diese Klubs in der Bundesliga spielen, werden aber noch mindestens drei bis vier Jahre vergehen. Von Vorteil ist grundsätzlich, dass in Vereinen wie dem FC Bayern München, dem HSV oder Union Berlin, die bereits Männerteams im Profifußball haben, gewisse Infrastrukturen schon vorhanden sind. Dort haben die Frauenteams dank dieser Ressourcen gleich einen ganz anderen Startpunkt, was die Professionalisierung angeht. Sie haben beispielsweise Zugriff auf Physiotherapeuten et cetera.

Was muss sich im Fußball der Frauen in Deutschland noch verbessern?

Grundsätzlich sind die Themen Infrastruktur und Logistik ein wichtiger Punkt. Und natürlich auch die Gehälter. In der vergangenen Saison haben 62 Prozent aller Bundesligaspielerinnen de facto deutlich weniger als 3000 Euro brutto im Monat verdient. Die mussten nebenbei noch arbeiten. Das ist einfach eine unglaublich hohe Belastung. Teilweise müssen die Spielerinnen für die Montagsspiele bezahlten Urlaub nehmen. Da können wir noch nicht von Profisport sprechen. Auch das Thema Frauengesundheit muss viel mehr Beachtung finden. Was braucht der weibliche Körper, um besser zu performen? Vieles orientiert sich da noch zu sehr an den Männern. Es gibt also noch einiges zu tun.

Wie stehen unter diesen Voraussetzungen die Chancen für einen reinen Frauenverein wie die SGS Essen, sich in der Bundesliga zu halten? 

Ich bin überzeugt davon, dass man solchen Klubs eine Chance geben muss. Gerade ein Verein wie die SGS ist ja enorm wichtig für den deutschen Frauenfußball. Schon wegen der Nachwuchsförderung, die sie dort über Jahrzehnte aufgebaut haben. Allein die Zahl der Nationalspielerinnen, die aus Essen kommen, spricht Bände. Aber man muss sich natürlich auch sehr genau damit beschäftigen, wo die Chancen für solch einen Verein liegen. Das ist eine riesengroße Herausforderung, gerade aus wirtschaftlicher Sicht, weil die Klubs mit erfolgreichen Männermannschaften eben andere Möglichkeiten haben, ihre Frauenteams zu subventionieren. Wie ein innovativeres Modell aussehen könnte, kann man zum Beispiel in den USA beobachten. In Deutschland hat man allerdings aufgrund der traditionsreichen Fußballkultur die Herausforderung, dass Dinge wie Investorenmodelle hier nicht in gleichem Maße akzeptiert sind. (Hier erfahrt Ihr mehr über die SGS Essen: Link)

Stichwort USA: Sportfive hat ja auch dort Standorte. Wie nutzen Sie die Expertise der amerikanischen Kolleg*innen?

Sportfive hat den Frauensport zu einem der drei globalen Wachstumsfelder erklärt. Deshalb haben wir im vergangenen Jahr eine globale Taskforce gegründet, an der Kolleginnen und Kollegen aus den USA, aber auch aus Asien oder aus Australien beteiligt sind. Einmal im Monat treffen wir uns digital und tauschen uns aus. Das ist natürlich eine Herausforderung mit den Zeitverschiebungen, aber wir profitieren da enorm von. Mit unseren Kernmärkten – also Deutschland, Frankreich, Spanien und England – haben wir dann noch mal einen separaten Austausch mit der NWSL, wo wir über Herausforderungen in unseren Märkten sprechen, aber eben auch über Chancen und Potenziale. 

In Deutschland ist Sportfive unter anderem Partner von Bayer Leverkusen, sowie dem HSV und Union Berlin, die gerade beide in die erste Liga der Frauen aufgestiegen sind. Union Berlin hatte in der zweiten Liga einen Zuschauerschnitt, den in dieser Saison kein Erstligist erreicht hat. Leverkusen wiederum hatte den schlechtesten Zuschauerschnitt aller Vereine der ersten Liga. Woran liegt das? 

In Leverkusen hat mit Sicherheit eine Rolle gespielt, dass die Männermannschaft zum ersten Mal Deutscher Meister geworden ist und die Frauen dann eben trotz ihrer tollen Saison medial im Schatten der Männer standen. Spannend finde ich, dass die Leverkusenerinnen mit 270 Prozent das größte digitale Wachstum aller deutschen Frauenteams hatten – gemessen an den Followerzahlen auf Social-Media-Kanälen. Vermutlich ist die aktuelle Zielgruppe also eine, die derzeit noch mehr in den sozialen Medien unterwegs ist als im Stadion. Die Aufgabe besteht deshalb sicher auch darin, sich damit zu beschäftigen, wie wir es schaffen, diese Menschen ins Stadion zu bringen. Leverkusen hat Ende letzter Saison beim Heimspiel gegen RB Leipzig zum ersten Mal einen Familienspieltag ausgerufen, um bewusst die Zielgruppe der Familien und der jüngeren weiblichen Fans anzusprechen. Grundsätzlich hat das Setup in Leverkusen sehr viel Potenzial. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass ein Verein der ersten Frauen-Bundesliga über eine so gute Infrastruktur verfügt.

Was halten Sie von der Aufstockung der Bundesliga auf 14 Vereine zur nächsten Saison?

Das bedeutet natürlich erstmal mehr Spiele und damit mehr Präsenz. Ich persönlich frage mich allerdings, ob der Schritt nicht vielleicht ein bis zwei Jahre zu früh kommt. Wir haben es in der vergangenen Saison gesehen als Turbine Potsdam am Ende mit nur einem Punkt abgeschlagen Letzter geworden ist. Da fehlt dann in vielen Spielen die Spannung – sowohl für das Publikum als auch für die beteiligten Vereine. Aus meiner Sicht sollten wir im Fußball der Frauen erstmal die Nachwuchsförderung stärken, bevor wir die erste Bundesliga erweitern. 

Sie sind bei Sportfive Teil des Vermarktungsteams für den BVB: Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie großartig wäre ein Wechsel von Alexandra Popp nach Dortmund?

Als wir das Interview gelesen haben, in dem sich Alex Popp zum BVB geäußert hat, haben wir alle direkt gesagt: Boah, das wäre geil! Weil man mit ihr eben genau dieses Gesicht des Frauenfußballs hätte, mit absoluter Vorbildfunktion und großer Reichweite. Das wäre schon sehr cool gewesen und wir hätten sicherlich nicht nein gesagt. Aber der BVB hat gerade aus eigener Kraft den Aufstieg in die dritte Liga geschafft. Das ist auch ohne eine Alexandra Popp eine richtig gute Geschichte. Und sie hat ja leider auch schon bekannt gegeben, dass sie noch mal für ein Jahr beim VfL Wolfsburg verlängert. 

Wie sehr blutet das Vermarkterinnenherz, wenn eine Spielerin wie Jule Brand sich für den Schritt nach Frankreich entscheidet und der Bundesliga verloren geht?

Erstmal ist ihr Wechsel nach Lyon natürlich verständlich, schon weil die Gehälter dort höher sind. Aber wir brauchen diese Gesichter hier in Deutschland, diese Vorbilder für junge Fans. Klar, Jule Brand spielt weiterhin für Deutschland, aber wir brauchen solche Spielerinnen hier im Land, wir brauchen sie in der Bundesliga. Viele Fans finden über die Nationalmannschaft zum Frauenfußball. Der Zugang ist da im Moment noch vereinsunabhängiger als im Männerfußball. Das heißt, die Fans folgen oft einzelnen Spielerinnen. Und wenn man diese Stars dann hier in Deutschland hat, ist das ein absoluter Vorteil für die Frauenbundesliga. 

Wer sind aus Ihrer Sicht aktuell solche Stars?

Giulia Gwinn zum Beispiel, die ja inzwischen Kapitänin der deutschen Nationalmannschaft ist. Oder Lea Schüller, die mit 52 Toren in 75 Länderspielen eine Wahnsinnsquote hat. Aber auch junge Spielerinnen wie Sydney Lohmann, die jetzt gegen Österreich das schnellste Tor für die Nationalmannschaft überhaupt geschossen hat. Das sind natürlich Geschichten, die dem Fußball der Frauen helfen. So ein Blitztor lässt sich in Highlight Clips super auf Social Media verbreiten und sorgt für Aufmerksamkeit. Wenn so eine Spielerin dann in der Bundesliga spielt, gehen die Leute auch mal ins Stadion, um sie live zu sehen.

Giulia Gwinn im Trikot der deutschen Nationalmannschaft.
Giulia Gwinn ist ein Star des deutschen Fußballs der Frauen. Foto: Leonie Kiehl

Stichwort Social Media. Wie ist Deutschland in dem Bereich im Vergleich zum internationalen Fußball der Frauen aufgestellt? Passiert da schon genug?

Potenzial nach oben gibt es definitiv noch, gerade in so einem Wachstumsumfeld. Grundsätzlich ist Social Media eine der wichtigsten Plattformen im Fußball der Frauen, weil der eine jüngere Zielgruppe anspricht, die genau dort unterwegs ist. Da braucht es innovative Content-Formate, es braucht aber auch Geschichten, die wir erzählen können. Was die Reichweite von einzelnen Spielerinnen angeht, sind Topspielerinnen wie Giulia Quinn, Lena Oberdorf oder Jule Brandt ganz oben mit dabei, aber danach wird es auch schon sehr schnell sehr dünn. Da ist dann vielleicht auch die Frage: Wie können Vereine Spielerinnen in diesem Bereich unterstützen? Die müssen in den sozialen Medien aber natürlich auch präsent sein wollen. Jüngere Spielerinnen, die jetzt gerade im Profibereich ankommen, wachsen schon mit einer anderen Selbstverständlichkeit mit Social Media auf. Ich bin deshalb überzeugt, dass sich das weiterentwickeln wird. Aber noch sind die Zahlen in Deutschland wesentlich kleiner als bei vielen Spielerinnen aus der englischen oder der amerikanischen Liga.

Etwas, das Social-Media-mäßig sehr gepusht wurde, war das „World Sevens Football“, ein Kleinfeld-Turnier im Format 7 gegen 7, das kurz vor dem Champions-League-Finale Premiere gefeiert hat. Als es vorbei war, konnte ich drei Tage lang Instagram nicht mehr öffnen, ohne mit Clips davon bombardiert zu werden.

Mir ging es ähnlich. Mein Algorithmus war auch voll davon und irgendwann war es mir persönlich too much, weil jedes Team, jeder Verein, jede Spielerin da Clips gepostet hat. Am Anfang fand ich es aber sehr sympathisch, weil es so locker wirkte, nach dem Motto: Wir machen uns hier drei coole Tage und haben Spaß am Fußball. Das Event war aus meiner Sicht ein guter Anlass dem Frauenfußball eine Bühne zu geben. Und was sie dort an Prämien bekommen haben, ist ja auch kein Geheimnis: Mehr als Arsenal beim Gewinn der Champions League. Andererseits war es ein mehrtägiges Turnier, das im sowieso schon sehr vollen Terminkalender noch dazwischengeschoben wurde. Mit dem Risiko für die Spielerinnen sich zum Beispiel kurz vor der Europameisterschaft noch zu verletzen. Das Format fand ich aber ganz interessant. So etwas braucht es grundsätzlich im Frauenfußball: Dinge mal neu zu denken, frischen Wind reinzubringen. Aber sportlich gesehen hatte das Turnier natürlich nicht die große Relevanz.

Wenn Sie einen Wunsch für den Fußball der Frauen in Deutschland erfüllt bekommen könnten, was würden Sie sich wünschen?

Mehr Mut, mehr Respekt und mehr Sichtbarkeit. Der Frauenfußball ist ein Geschwisterkind des Männerfußballs. Er ist ein gleichwertiges Individuum und hat seinen eigenen Charakter. Und so müssen wir ihn auch behandeln. Wir müssen uns einfach mal etwas trauen. Natürlich ist das dann erstmal eine Investition und ein gewisses Risiko. Aber: No risk, no fun. Wenn wir nichts wagen, dann stehen wir in zwei Jahren immer noch am selben Punkt. Nur dass dann die Lücke zum internationalen Frauenfußball noch größer geworden ist. Und das sollten wir wirklich nicht zulassen.

Jessica Stommel

Jessica Stommel ist Head of Frauenfußball bei SPORTFIVE. In Deutschland vermarktet die Sportmarketingagentur exklusiv 14 Frauenfußball-Teams, darunter die Mannschaften von Bayer Leverkusen, Union Berlin, dem Hamburger SV, dem VfB Stuttgart, Hertha BSC Berlin, Borussia Dortmund oder dem FC Schalke 04.

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