SGS Essen: Viel Talent und wenig Kohle

Die SGS Essen ist eine Ausnahmeerscheinung im deutschen Frauenfußball. Seit mehr als 20 Jahren hält sich der Klub aus dem Ruhrgebiet in der ersten Liga – und das, ohne eine finanzstarke Männer-Lizenzmannschaft im Rücken. Wie macht der Verein das?

Am fünften Spieltag der Saison 2024/25 kann man viel lernen über die SGS Essen und ihre Rolle im deutschen Fußball der Frauen. Als die Partie an diesem Oktobersonntag im Stadion an der Hafenstraße angepfiffen wird, stehen für Essen neun Spielerinnen auf dem Platz, die jünger sind als 23 Jahre. Nur Annalena Rieke (25) und Ramona Maier (29) heben den Altersdurchschnitt der Mannschaft etwas. 

Die SGS gilt als Talentschmiede des deutschen Frauenfußballs. In Essen werden begabte junge Fußballerinnen ausgebildet, gefördert und haben die Chance Spielpraxis in der höchsten deutschen Liga zu sammeln. So wie die 21-jährige Beke Sterner, die gegen Eintracht Frankfurt bereits ihr 82. Bundesligaspiel bestreitet. Die junge Verteidigerin führt ihre Mannschaft an diesem Tag als Kapitänin auf den Platz. Hinter ihr hütet Sophia Winkler, ebenfalls 21 Jahre alt, das Essener Tor.

Ruf als exzellenter Ausbildungsverein

Lea Schüller im Trikot der SGS Essen im Zweikampf mit Vanessa Fürst im Trikot von Duisburg.
Auch Nationalspielerin Lea Schüller trat früher für die SGS Essen an. Foto: SGS Essen

Die SGS Essen betreibt sechs Nachwuchsteams: Die U11, die U13 und die U15 spielen in altersgleichen Jungenspielklassen, die U17 und die U19 in den höchsten Juniorinnenklassen und die U21 in Frauenligen. Zusammen bilden die U-Mannschaften den sogenannten „Förderturm“. Außerdem hat der Verein vor einigen Jahren eine Kooperation mit dem Sport- und Tanzinternat Essen abgeschlossen, um Spielerinnen die Vereinbarkeit von Schule und Profisport zu erleichtern.

Im Februar 2024 gab die SGS bekannt, dass der Förderturm Teil eines Pilotprojektes des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) zur geplanten Entwicklung eines Förder- und Leistungszentrums für Mädchen und junge Frauen wird. Dafür wählte der DFB bundesweit fünf Standorte aus, um herauszufinden, wie der Mädchen- und Frauenfußball in Zukunft am Besten gefördert werden kann. Insgesamt hatten sich 22 Vereine für die erste Phase des Projekts beworben. 

Dass die SGS zu Recht den Ruf eines exzellenten Ausbildungsvereins genießt, zeigen Beispiele wie das von Lea Schüller. Die Stürmerin wechselte mit 14 Jahren vom Krefelder Verein Hülser SV zur SGS, debütierte dort mit 16 Jahren in der Bundesliga und reifte in Essen zur A-Nationalspielerin. Ähnlich lief es bei ihrer Sturmkollegin Nicole Anyomi, die mit 14 Jahren von Mönchengladbach nach Essen ging. Mit 16 kam Anyomi dort zu ihrem ersten Bundesligaeinsatz und schaffte schließlich ebenfalls den Sprung in die A-Nationalmannschaft.

Talentschmiede der Bundesliga

Lena Oberdorf im Trikot der SGS Essen in einem Zweikampf mit Svenja Huth vom VfL Wolfsburg.
Supertalent Lena Oberdorf spielte einst in der Bundesligamannschaft der SGS. Foto: SGS Essen

Auch im aktuellen Kader der SGS finden sich Spielerinnen, die es über den Förderturm in die Bundesliga geschafft haben. Da ist zum Beispiel Kassandra Potsi. Die 16-Jährige tunnelt kurz vor dem Anpfiff gegen Eintracht Frankfurt auf dem Weg zur Ersatzbank lässig eine Mitspielerin im Gehen. Potsi ist das, was man eine Straßenfußballerin nennt. Erst im Alter von neun Jahren begann sie im Verein Fußball zu spielen. Mit zehn kam sie zur SGS, wo sie Anfang 2024 ihren ersten Profivertrag unterschrieb.

Jetzt sitzt Potsi auf der Bank und sieht zu, wie ihre Mannschaft couragiert in das Spiel gegen die favorisierten Frankfurterinnen startet. Und der Mut wird belohnt. In der 18. Minute flankt SGS-Spielmacherin Natasha Kowalski den Ball auf Beke Sterner. Deren Gegenspielerin Elisa Senß zieht Sterner im Frankfurter Strafraum am Trikot: Elfmeter. Natasha Kowalski verwandelt sicher.

Elisa Senß ist an diesem Tag eine von fünf ehemaligen SGS-Spielerinnen im Kader von Eintracht Frankfurt. Neben ihr und Nicole Anyomi haben auch Sara Doorsoun, Stina Johannes und Carlotta Wamser früher in Essen gespielt. Denn das ist die Kehrseite des Status als Talentschmiede: Machen begabte junge Spielerinnen in der Liga zu deutlich auf sich aufmerksam, hagelt es schnell Abwerbeversuche anderer Vereine. Und dann kann die SGS oft nicht mithalten.

„Wenn Bayern oder Wolfsburg Angebote machen, ist es fast unmöglich, die Spielerinnen zu halten – gerade, wenn diese die internationale Perspektive reizt. Und natürlich geht es auch ums Geld“, sagte Essens Geschäftsführer Florian Zeutschler im Sommer des vergangenen Jahres der „Sportschau“. Damals wechselte SGS-Stürmerin Vivien Endemann mit 21 Jahren zum VfL Wolfsburg. Etwa ein halbes Jahr später wurde sie zum ersten Mal in die deutsche Nationalmannschaft berufen. Auch die gerade aus der DFB-Auswahl zurückgetretene Abwehrchefin Marina Hegering und Bayerns wichtigster Neuzugang Lena Oberdorf spielten einst an der Essener Hafenstraße.

Am Ball bleiben trotz begrenzter Mittel

Markus Högner, Trainer der SGS Essen
Die Rolle des Davids der Liga nutzen Markus Högner und die SGS für die Vermarktung. Foto: SGS Essen

Trotz des frustrierenden Kreislaufs „Talente entdecken, Talente fördern, Talente verlieren“ betonen die Verantwortlichen in Essen immer wieder am Konzept des Ausbildungsvereins festhalten zu wollen. Einfacher wird das in den kommenden Jahren vermutlich nicht. Füher prägten reine Frauenvereine wie Heike Rheine, der SC 07 Bad Neuenahr oder der 1. FFC Frankfurt den deutschen Frauenfußball. Seit 2013 jedoch sind nur noch zwei Vereine Deutscher Meister geworden: der VfL Wolfsburg und der FC Bayern München. 

In der Saison 2023/24 war die SGS Essen der einzige Verein der Frauen-Bundesliga, der nicht als Beiboot eines Männervereins unterwegs war. Dieses Jahr sind dank des Wiederaufstiegs von Turbine Potsdam zwei reine Frauenvereine in der höchsten Spielklasse. Geht man allerdings nach den ersten Eindrücken in dieser Saison, könnte es für die Turbinen – 2010 noch Champions-League-Sieger – ein kurzes Gastspiel werden.

Wer keinen Lizenzverein aus der Männer-Bundesliga an seiner Seite hat, der ihn bei Bedarf querfinanzieren kann, der sollte nicht mehr ausgeben als er einnimmt. Das wissen sie in Essen und das setzen sie um. Die Rolle als David der Liga haben sie sich nicht ausgesucht, aber sie nehmen sie an und nutzen sie für die Vermarktung.

Gleichzeitig arbeiten sie an der Professionalisierung der Infrastruktur. Ein Hybridrasen ist bereits vorhanden, dazu kommt ein neues Funktionsgebäude. „Der nächste Step wird das neue Leistungszentrum, das sich aktuell im Bau befindet und unsere Möglichkeiten in der Nachwuchsförderung noch weiter verbessern wird“, erklärte Essens langjähriger Trainer Markus Högner Anfang des Jahres in einem DFB-Interview.

Ein Neuzugang aus Österreich

Lilli Purtscheller im lilafarbenen Trikot der SGS Essen.
Die österreichische Nationalspielerin Lilli Purtscheller kam aus Graz nach Essen. Foto: SGS Essen

Welche Vorteile das Essener Modell talentierten Nachwuchsspielerinnen bietet, hat sich inzwischen herumgesprochen. Nicht nur in Deutschland. Und so steht beim Spiel gegen Eintracht Frankfurt auch Lilli Purtscheller im schwarzen Trikot der SGS auf dem Rasen. 

Die junge Österreicherin gibt zu, vor dem Angebot aus Essen „eher die deutschen Top-Verein wie Bayern, Wolfsburg oder auch mal Frankfurt“ verfolgt zu haben. „Aber ich habe schon gewusst, dass Essen ein extrem guter und familiärer Ausbildungsverein ist, der jungen Spielerinnen eine Chance gibt.“

Die 21-Jährige hat diese Chance genutzt und es nicht bereut. Zur Saison 2023/24 wechselte die österreichische Nationalspielerin von Sturm Graz zur SGS. „Obwohl wir in der 1. Bundesliga spielen, sind alle im Verein total auf dem Boden geblieben“, sagt Purtscheller. „Ich bin hierher gewechselt als ein Niemand. Die kannten mich alle nicht und haben mich trotzdem gleich super aufgenommen.“

Frau Doktor in der Abwehr

Lena Ostermeier jubelt
Lena Ostermeier hat allen Grund zum Jubeln: Sie hat ihren Doktortitel in der Tasche. Foto: SGS Essen

Es gibt kaum eine Spielerin im Kader, die nicht nebenbei zur Schule geht, studiert oder berufstätig ist. Kapitänin Jacqueline „Jaci“ Meißner, Mutter von einjährigen Zwillingen, arbeitet im Betrieb ihrer Eltern. Lilli Purtscheller absolviert ein Fernstudium in Sportwissenschaften. „Für mich spielt Fußball im Leben eine sehr sehr große Rolle. Und wenn ich den Ausgleich mit der Uni nicht hätte, dann wäre es für mich schwierig“, sagt die 21-Jährige. „Wenn man zum Beispiel ein schlechtes Spiel gehabt hat, dann ist es einfach wichtig, dass man auch mal an etwas anderes denkt. Auch damit man sich nicht nur über den Fußball definiert.“ 

Und dann gibt es natürlich auch noch einen ganz pragmatischen Grund, die Doppelbelastung auf sich zu nehmen, wie Abwehrspielerin Lena Ostermeier in einem Vereinsinterview sagt: „Bei dem, was die Spielerinnen aktuell verdienen, kann man vielleicht für den Moment davon leben, aber was kommt danach?“

Das gilt natürlich besonders bei einem Verein wie Essen, der keine Gehälter wie Wolfsburg oder Bayern zahlen kann. Die Essener arbeiten deshalb mit einem dualen System, wie Trainer Markus Högner in der „Rheinischen Post“ erklärt: „Wir trainieren auch jeden Tag, aber halt in der Regel nur nachmittags.“ Der Verein trage die Verantwortung dafür, dass junge Spielerinnen ihre schulische und berufliche Ausbildung abschließen können. Bei Lena Ostermeier hat das herausragend gut funktioniert: Im Sommer 2023 hat die 28-Jährige an der TU Dortmund ihr Chemiestudium abgeschlossen und promoviert.

Eine magische Saison für das junge Team

Natasha Kowalski bejubelt einen Treffer.
Magische Moment in Lila-Weiß: Natasha Kowalski bejubelt einen Treffer. Foto: SGS Essen.

Auch Torhüterin Sophia Winkler studiert nebenbei. Wie Purtscheller, Rechtsverteidigerin Beke Sterner, Spielmacherin Natasha Kowalski und Stürmerin Laureta Elmazi gehört sie zum „goldenen“ 2003er-Jahrgang der SGS. Sie alle bringen für ihr Alter schon sehr viel Erstliga-Erfahrung mit und gelten als Spielerinnen, die es noch weit bringen können.

Welches Potenzial in der jungen Essener Mannschaft steckt, zeigte sich in der vergangenen Saison, als dem Team mit 35 Punkten aus 22 Spielen und dem vierten Tabellenplatz die beste Schlussplatzierung in 20 Jahren Ligazugehörigkeit gelang. Bis auf Mittelfeld-Allrounderin Katharina Piljic, die zum Liga-Konkurrenten Leverkusen wechselte, konnte Trainer Högner anschließend all seine 2003er in Essen halten.

„Die letzte Saison war schon magisch“, sagt Lilli Purtscheller. „Wir hatten einfach die perfekte Mischung aus den Jungen, die sich getraut haben zu zocken und erfahrenen Spielerinnen wie Jaci Meißner und Lena Ostermeier, die wussten, dass es auch Momente gibt, wo man es ruhiger angehen muss und nicht so auf Risiko spielen darf.“

Die Mischung macht’s

Lena Ostermeier und Beke Sterner jubeln gemeinsam in die Kamera.
Eine gute Mischung: Die erfahrene Lena Ostermeier zwischen den jungen Essener Talenten Kassandra Potsi
(l.) und Beke Sterner (r.). Foto: SGS Essen

Was passieren kann, wenn die Mischung nicht stimmt, zeigt das Spiel gegen Frankfurt. Die Essener Abwehrroutiniers Jacqueline „Jaci“ Meißner und Lena Ostermeier, die verletzt auf der Bank sitzen, müssen mit ansehen, wie ihr Team nach der Halbzeitpause die 1:0-Führung verspielt. Bis zur 61. Minute hält die Mannschaft dem Druck der Eintracht stand. Dann kassieren die Essenerinnen noch drei Tore.

Das Publikum im Stadion an der Hafenstraße feiert sein Team nach dem 1:3 dennoch. Doch Lilli Purtscheller scheint das gar nicht zu merken. Sie steht auf dem Rasen und kann die Tränen nicht zurückhalten. Irgendwann kommt Jaci Meißner und nimmt die junge Flügelspielerin in den Arm. 

„Ich war einfach sehr enttäuscht“, sagt Purtscheller später. „Wenn man so eine gute erste Halbzeit spielt und hinterher ohne Punkte dasteht, das ist schon scheiße. Wir jungen Spielerinnen machen uns dann sehr viele Gedanken. Aber Jaci ist einfach so erfahren, die hat zu mir gesagt: Klar ist es Mist, dass wir heute verloren haben, aber es ist trotz allem nur ein Spiel und es geht weiter.“

Per Zufall zur Legende

Markus Högner hält Jaci Meißner im Arm.
Trainer Markus Högner mit Abwehrchefin Jaci Meißner. Foto: SGS Essen

Jaci Meißner ist eine SGS-Legende. (Bei der Bolztribüne gibt es ein schönes Meißner-Porträt zu lesen.) Die 30-Jährige hat mehr als 250 Erstligapartien für die  Essenerinnen absolviert und gehört seit 13 Jahren ihrem Bundesligakader an. Erst kürzlich hat sie ihren Vertrag bei den Lila-Weißen bis 2027 verlängert. 

Dabei ist Meißner eher zufällig bei der SGS gelandet. Eigentlich wollten die Essener eine Mitspielerin von Meißner bei ihrem damaligen Verein SG Lütgendortmund sichten, doch dann fiel ihnen dort die Abwehrspielerin auf. Meißner ging nach Essen – und blieb. 

„Für mich war es nie das Ziel Bundesliga zu spielen oder für die Nationalmannschaft aufzulaufen. Es hat sich einfach so ergeben“, sagt die gebürtige Dortmunderin. „Ich bin so ein Heimscheißer, dass ich gar nicht von hier weg möchte. Ich bin halt Ruhrpott durch und durch. Ich habe in jüngeren Jahren keinen Grund gesehen, den Verein zu wechseln. Und jetzt bin ich kurz vor der Rente.“

Eine Nationalspielerin für die SGS

Sophia Winkler beim Abschlag
Torhüterin Sophia Winkler hat sich bei Essen ins Rampenlicht gespielt. Foto: SGS Essen

Meißner ist stolz auf ihr junges Team: „Wir haben keine Grüppchenbildung, können Dinge offen ansprechen und unterstützen uns gegenseitig.“ Die 30-Jährige spürt aber auch, dass der Druck nach den Leistungen der Vorsaison gestiegen ist. „Die Erwartungshaltung ist schon ein bisschen höher.“

Eine, die mit diesem Druck offenbar gut umgehen kann, ist Sophia Winkler. Nach dem 1:3 gegen Eintracht Frankfurt gibt sie im Stadion an der Hafenstraße entspannt Autogramme und macht lächelnd Selfies mit aufgeregten Fans. Am Ende schenkt Winkler einem der Ballmädchen ihre Handschuhe.

„Sophia gehört für mich schon seit mindestens zwei Jahren zu den Top-Torhüterinnen in Deutschland“, sagt Jaci Meißner über die 21-Jährige im Kasten der SGS. Knapp zwei Wochen nach dem verlorenen Frankfurt-Spiel wird die junge Torhüterin vom neuen Bundestrainer Christian Wück als Nachrückerin erstmals in den Kader der deutschen Nationalmannschaft berufen.

Winkler spielt seit der Rückrunde der Saison 2016/17 bei der SGS. Wie stark sich ihr Torwartspiel seitdem entwickelt hat, ist auch anderen Vereinen nicht verborgen geblieben. Geht für die SGS jetzt wieder der frustrierende Kreislauf der Talente los? Kapitänin Jaci Meißner ist in dieser Hinsicht optimistisch: „Sophia hat zum Glück gerade erst bei uns verlängert. Also Angst habe ich da jetzt nicht.“

Wie es bei Trainer Markus Högner mit dem Verhältnis von Angst und Optimismus aussieht, ist schwer zu sagen. Leicht wird es ganz sicher nicht, seinen goldenen Jahrgang in Essen zusammenzuhalten.

Titelfoto: SGS Essen

Hinweis

Dieser Text ist bereits Ende Oktober 2024 entstanden. Damals gab es „11 Frauen“ noch nicht, weshalb er erst jetzt hier erscheint.

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